01 – Seraphinas Geheimnis

Die Menschen in der Stadt sprachen oft über Seraphina. Sie flüsterten ihren Namen, wenn sie durch die engen Gassen schritt, mit ihrem feuerroten Haar, das wie lodernde Flammen in der Abendsonne leuchtete. Ihre dunklen Augen hielten Geschichten verborgen, die niemand zu erzählen wagte.

Manche sagten, sie sei eine Künstlerin, andere glaubten, sie könne die Gedanken der Menschen lesen. Doch egal, welche Gerüchte über sie kursierten, eines stand fest: Seraphina war eine Frau, die man nicht vergaß.

Tagsüber war sie eine stille Beobachterin, die durch die Straßen wanderte, scheinbar verloren in ihren eigenen Gedanken. Man sah sie oft am großen Platz, wo sie sich auf eine der alten Steinbänke setzte und die vorbeiziehenden Menschen betrachtete. Ihre Lippen bewegten sich manchmal, als würde sie mit jemandem sprechen, doch niemand stand neben ihr.

„Vielleicht spricht sie mit Geistern“, raunten sich die Menschen zu.

Eines Abends, als die Dämmerung den Himmel in blutrote und violette Töne tauchte, betrat Seraphina die kleine Galerie am Marktplatz. Die Tür öffnete sich lautlos, und der Raum verstummte. Keiner hatte sie je malen sehen, doch an diesem Abend präsentierte sie ein Gemälde.

Es war das Porträt einer Frau mit durchdringendem Blick, alabasterfarbener Haut und geheimnisvoll geröteten Wangen. Ihr Haar war in warmen Rottönen gemalt, und im Hintergrund tanzten abstrakte Kreise wie verborgene Erinnerungen. Die Menschen traten näher, fasziniert von der Intensität des Bildes.

„Wer ist sie?“ fragte ein Mann aus der Menge.

Seraphina verharrte einen Moment, dann lächelte sie sanft und antwortete leise:

„Jemand, den ihr nie vergessen werdet.“

Niemand wagte weiter zu fragen. Doch als die Nacht hereinbrach und die Stadt in goldenem Laternenlicht erstrahlte, blieb das Bild in ihren Gedanken.

Am nächsten Morgen war Seraphina verschwunden. Ihr Haus stand leer, ihr Name wurde nur noch in Geschichten geflüstert. Aber das Porträt in der Galerie blieb. Und mit jedem Jahr schien das Gesicht der Frau lebendiger zu werden – als würde Seraphina, wo auch immer sie war, immer noch zusehen.

 

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